Tag der Vergeltung
von Christina Gasser (Kommentare: 0) Krimi

Elaine Rogers wird in ihrer Wohnung heimtückisch ermordet. Amy Thurling, eine enge Bekannte der Toten, entschliesst sich deshalb, Nachforschungen anzustellen und erfährt dabei von einem ähnlichen Mord, der Jahre zuvor begangen worden ist. Der Mörder konnte jedoch nie gefasst werden.
Amys Spürsinn ist geweckt. Jemand, der sie bei den Nachforschungen unterstützt und ihr zur Seite steht, ist Lucas Twain. Er ist ein guter Freund von Amy und leitender Beamte im Mordfall Elaine Rogers.
Wie geschickt und perfide der Mörder vorgegangen ist, wird erst klar, als Amy in Lebensgefahr gerät.
(Merkur Druck AG, Langenthal, 2001)
Leseprobe aus: Tag der Vergeltung, Kapitel 11
Amy betrachtete das Bild, das eine junge Frau in einem schwarzen Abendkleid zeigte. Sie sass auf einem Stuhl im Freien. Im Hintergrund war das Meer zu sehen. Die anmutige Frau trug einen Hut mit übermässig breitem Rand, den sie mit einer Hand festhielt. Sie lächelte in die Kamera.
Ein hübsches Lächeln. Sarah hat es geerbt.
»Meine Mutter liebte das Meer. Genau wie ich.«
Amy sah sich die Schrift unterhalb des Fotos genauer an: <Sizilien, Sommer 1969>.
»Ihre Mutter reiste bestimmt gerne.«
»Ja, zusammen mit meinem Vater war sie oft in Italien.«
»Wann haben Ihre Eltern geheiratet?«
»Ziemlich früh. Mama war neunzehn, als sie meinen Vater kennen lernte. Mit zwanzig hat sie ihn dann geheiratet. Das war 1970. Im selben Jahr ist meine Schwester zur Welt gekommen.«
Sieht ganz danach aus, als wäre es nicht nur eine Liebesheirat gewesen.
Sarah blätterte weiter, hielt auf einmal inne und zeigte Amy eine ganzseitige Porträtaufnahme ihrer Mutter.
»Dieses Bild kommt mir bekannt vor. Ich glaube, ich habe es in der Zeitung gesehen«, sagte Amy.
»Ja. Es wurde zwei Wochen vor ihrem Tod gemacht. Es sollte ein Geschenk für Daddy werden.«
... und dann wurde es eines für die Presse!
Sarah klappte das Album abrupt zu. Sie schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben. »Ich halte nichts von Pressefreiheit. Ich bin der Ansicht, dass es die Pflicht der Medien ist, die Wahrheit zu berichten.«
Amy nahm die Gelegenheit wahr und entgegnete gelassen: »Manchmal ist es schwierig, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, wenn man falsche oder nicht ausreichende Informationen erhält. Dann muss man wohl oder übel Hypothesen anstellen.«
»Vermutungen kommen einer Lüge gleich, wenn man die Tatsachen so verdreht, dass die Öffentlichkeit sie als bare Münze nehmen muss.«
Paradox, dass du ausgerechnet Politik studierst. Heisst die erste Lektion eines Politikers nicht: Wie lerne ich geschickt zu lügen?
Amy verkniff sich den bissigen Kommentar und sagte: »Ich kann Ihren Schmerz zwar verstehen, Miss Wallington, aber ich muss Ihnen widersprechen. Ich heisse es auch nicht gut, wie sich einige Paparazzi und deren Auftraggeber verhalten. Doch ich bin davon überzeugt, dass es Journalisten gibt, die ihren Beruf durchaus ernst nehmen und sich ihrer Verantwortung gegenüber den Lesern bewusst sind. Die Menschen verarbeiten Informationen auf unterschiedlichste Weise. Das Verstehen ist ein individueller Prozess. Einen guten Artikel zu schreiben ist keine Leichtigkeit. Er kann zwar zweideutig geschrieben sein, verfügt aber dennoch über eine eindeutige Aussage. Diese gilt es herauszulesen.«
Sarah drehte den Kopf zur Seite und sah zum Park hinüber.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich schwören, Sie wären Journalistin, Mrs Thurling.«
Welch kluges Kind.
»Wäre das denn ein Problem, Sarah?«
»Es würde jedenfalls einiges erklären.«
»So?«
Sarah drehte den Kopf und blickte Amy unverwandt an. »Sie kommen hierher und stellen mir all diese Fragen. Warum? Wollen Sie irgendetwas wieder gutmachen, was einer Ihrer Kollegen Jahre zuvor kaputt gemacht hat?«
»Nein, das war nicht meine Absicht«, sagte Amy, als sie bemerkte, wie Sarah sich verkrampfte.
Das Mädchen wandte sich wieder ab.
»Es stimmt«, gab Amy zu, »ich bin Journalistin. Sie haben mich allerdings nie nach meiner Tätigkeit gefragt; und so hielt ich es nicht für notwendig, Sie davon in Kenntnis zu setzen. Aber wenn wir schon beim Thema sind, muss ich Ihnen leider sagen, dass die Person Recht hatte, wer immer es gewesen ist, die die Behauptung aufstellte, Ihre Mutter habe ein Verhältnis mit Antonio Rinaldi gehabt. Ich habe es nachgeprüft. Es entspricht der Wahrheit. Tut mir Leid, Sarah.«
Die Reaktion des Mädchens war verblüffend. Sarah weinte nicht. Sie war auch nicht mehr aggressiv, sondern schien ihr Gegenüber besänftigen zu wollen.
»Ich weiss«, war ihre knappe Antwort, »und ich habe es eigentlich immer gewusst. Ich wollte es nur nicht wahr haben.«
Amy war erleichtert. »Ich bin sicher, dass sie besser über den Tod Ihrer Mutter hinwegkommen werden, wenn Sie darüber sprechen.«
»Mag sein.«
Schweigen.
Und dann sagte das Mädchen beinahe flüsternd: »Entschuldigen Sie meine Unbeherrschtheit von vorhin. Es war nichts Persönliches. Ich bin ja froh, dass Sie hier sind.«
Amy war gerührt, blieb aber misstrauisch.
Versuchst du mich einzuwickeln? Ich bin auf der Hut.
»Möchten Sie mir vielleicht noch ein paar Fotos Ihrer Mutter zeigen? Es würde mich interessieren, wo sie als Kind gelebt hat. Haben Sie Bilder davon?«
»Aber natürlich.« Sarah schlug das andere Album auf und blätterte darin. »Sehen Sie hier. Das ist das Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen ist. Es steht in Camden Town.« Es war ein kleines Einfamilienhaus mit Garten.
Bescheiden.
Oberhalb des Bildes standen eine Ortsangabe und die Jahreszahl.
»Ivory Street 23, C.T. 1950«, las Amy. »Sehr hübsch.«
Aber sie kam nicht dazu, sich das Bild genauer anzuschauen. Sarah hielt ihr die nächste Aufnahme hin.
»Das ist von 1965. Mamas Abschlussklasse. Sehen Sie hier, das Mädchen im roten Kleid, das war meine Mutter.«
Amy nahm das Bild etwas näher zu sich heran. Die fotografierten Teenager waren alle in Reih und Glied aufgestellt. Die Mädchen sassen vorne auf Stühlen, die Jungen standen in strammer Manier dahinter. Amy zählte zwölf Mädchen und achtzehn Buben.
Eine grosse Klasse!
Dann entdeckte sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte: Mit Kugelschreiber ging von jeder Person eine Linie aus, die bis über den Bildrand hinauslief. Am Ende jeder Linie stand ein Name.
Amy las laut vor: »Eric Peters.« Die Verblüffung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Was ist denn los?«, fragte Sarah.
Amy schwieg.
»Mrs Thurling?«
»Verzeihen Sie«, sagte Amy schliesslich, »ich war in Gedanken.«
»Und worüber haben Sie nachgedacht?«
»Ich habe mich gefragt, ob ...« Amy hielt mitten in der Erklärung inne und setzte dann zu einer Frage an, die ihr angebrachter schien: »Sarah, wäre es möglich, dass es sich bei diesem Mann um den heutigen Detective Peters handelt?« Amy zeigte auf einen Jungen, bei dem der Name Eric Peters hinter der mit Kugelschreiber gezogenen Linie stand.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Sarah überrascht.
»Überlegen Sie doch: Wer hat damals den Todesfall Ihrer Mutter untersucht?«
»Es waren einige Leute. Ich kann mich nicht mehr an alle im Einzelnen erinnern. Aber ...«, sie machte eine Denkpause, dann fuhr sie aufgeregt fort: »Aber ja, Eric Peters! Er hat uns damals besucht und sich als Bekannter meiner Mutter vorgestellt. Er schien von Mutters Tod sehr betroffen gewesen zu ein.«
Sarah warf einen Blick auf das Foto. »Ja, das könnte er sein. Er sieht ihm ähnlich. Sicher bin ich mir aber nicht.«
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