Solothurner Lesebuch
von Christina Gasser (Kommentare: 0) Texte
CSI Solothurn

«Der Mörder ist letztlich immer der angeblich Unschuldige, den man von Anfang an im Visier hatte», philosophierte Lanz und blickte in ein blinzelndes Augenpaar.
«Was wollen Sie damit andeuten?»
«Denken Sie ‘mal scharf darüber nach, Lüthi!»
Lüthis Augen weiteten sich. «Sie verdächtigen doch nicht etwa mich?!» Die Frage kam etwas zu prompt, war in der Tonlage etwas zu hoch.
«Gäbe es denn einen Grund, Sie zu verdächtigen?»
«Ich weiss nicht. Ich meine … nein, natürlich nicht!»
«So, so», kommentierte Lanz, das letzte ‚So‘ etwas ausgiebiger dehnend. Er wusste, dass es beim Gegenüber Unsicherheit auslösen würde.
«Wie meinen Sie das?»
Lanz unterdrückte ein Grinsen.
«Nun, das bedeutet, dass Sie definitiv unter Verdacht stehen, Frau Suters Katze erschlagen und in der Verenaschlucht vergraben zu haben! Die Schlucht liegt ja ganz in der Nähe Ihrer Wohnung, ist sozusagen nur ein Katzensprung entfernt, nicht wahr?»
«Was? Nein! Damit habe ich nichts zu tun, ich schwör’s!»
«Auf die Bibel? Bedenken Sie, morgen ist Ostersonntag!»
Lüthi schüttelte energisch den Kopf. «Ich habe die Katze nicht umgebracht!»
«Sicher?»
«Hundertprozentig!»
Lanz musterte sein Vis-à-Vis aufmerksam. Lüthi bemühte sich auffällig um Gelassenheit, aber seine steife Körperhaltung verriet innere Anspannung. Selbst feine Mimikzuckungen waren Lanz nicht entgangen, und auch nicht, dass Lüthi nervös die Hände knetete, die er so sorgfältig unter dem Tisch zu verbergen versuchte.
«Ich habe ein Alibi!», versicherte Lüthi.
«Ach?»
«Ja, für die Tatzeit!»
«Woher wissen Sie denn, wann das Tier getötet worden ist?»
«Na, die alte Hexe …»
Lanz räusperte sich umständlich.
«Ehm, ich meine Frau Suter», korrigierte Lüthi, «ist heute Morgen wie eine Furie auf mich los. Als ich vom Joggen nach Hause gekommen bin, hat sie mich schon vor meiner Tür erwartet. Ich wohne nebenan. Dort hat sie mich als Katzenhasser und Miezenmörder beschimpft. Abartig!»
«So, so. Wann sind Sie denn vom Laufen heimgekommen?»
«Um halb zwölf.»
«Sicher?»
«Nein, sicher bin ich mir eben nicht», jammerte Lüthi und rieb sich die Stirn. «Ich weiss es nicht mehr genau. Vielleicht war es auch … zwanzig vor zwölf.»
«Oder früher?»
«Nein, früher auf keinen Fall!»
«Sind Sie sicher?»
«Ja, ganz sicher!»
«Waren Sie wütend?»
«Wütend? Naja, die Alte hat mich grundlos beleidigt! Hat mich beschuldigt, ihren Simba entführt und getötet zu haben. Gewettert hat sie, die blöde Kuh, und dabei das halbe Haus zusammengeschrien! Aber ich habe der dämlichen Katze nichts getan! Ich war am Donnerstagabend gar nicht zu Hause.»
«Wo sind Sie denn gewesen?»
«Mit meiner Freundin im Kino.»
«Ach?» Lanz zog die rechte Augenbraue hoch.
«Ja, wir haben uns Die Tribute von Panem angesehen. Das können Sie gerne nachprüfen!»
«Wenn wir Ihre DNA beim Katzenkadaver finden, wird die Überprüfung des Alibis hinfällig sein.»
«Aber ich sage Ihnen doch, das Vieh habe ich nicht umgebracht!»
«Gut», schloss Lanz und zuckte mit den Schultern, «wenn Sie das sagen … ich glaube Ihnen.»
«Was?», entfuhr es Lüthi, überrascht ob dem unverhofften Befragungsende. «Tatsächlich?»
«Absolut.»
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Lüthis Gesicht. «Ehm … gut. Danke, Mann!»
«Wie bitte?»
«Ich meine, danke, Herr Kommissar.»
«Herr Kommissar? Das klingt gut.»
«Kann ich jetzt gehen?»
«Wohin?»
«Na, ich denke, ich stehe nicht mehr unter Verdacht! Ich will nach Hause.»
«Natürlich. Sie dürfen gehen, Herr Lüthi.»
«Merci.» Er schob den Stuhl zurück und bewegte sich rasch Richtung Tür.
«Ach, einen Moment noch. Fingerabdrücke und eine Speichelprobe wären nett.»
«Dürfen Sie das denn? Sie haben doch gesagt …»
«Wichtige Routine, Sie verstehen.» Lanz setzte ein freundliches Gesicht auf. Damit wollte er aber keineswegs Sympathie erheischen, sondern einzig Überlegenheit ausstrahlen.
«Muss das sein?» Lüthis Stimme wurde zittrig.
«Ja, es muss. Wenn Sie bitte den Flur entlanggehen und dann die letzte Tür rechts anvisieren würden, wäre das ganz prima. Dort wird man Sie weiter instruieren.»
Lüthis Mimik drückte Widerwillen aus. «Eigentlich hab‘ ich’s eilig. Meine Freundin wartet.»
«Melanie Leuenberger?»
«Ja, aber woher …»
«Wartet sie bei Ihnen zu Hause?», unterbrach Lanz.
«Ja! Kann ich jetzt gehen?»
«Datensicherung dauert nicht lange.»
Kein Ausweichmanöver schien zu fruchten.
«Na gut», knurrte Lüthi.
«Besten Dank für Ihre Kooperation, Herr Lüthi. Auf Wiedersehen.»
«Ja, ja», grummelte der Verabschiedete und zog rasch die Tür hinter sich zu.
«Das war doch eine unterhaltsame Vernehmung, oder nicht?», witzelte Lanz.
«Du bist ein Idiot!», wies ihn seine Kollegin zurecht. Sie stand auf und schob den Hocker energisch unter Lanz‘ Schreibtisch.
«Du hast deinen Spass und ich darf alles protokollieren! Vielen Dank.»
«Komm schon, Sandra, das war doch lustig!»
«Du bist ein Idiot!»
Lanz lachte.
«Fingerabdrücke und Speichelprobe wegen einer getöteten Katze? Heute hast du dich wirklich selbst übertroffen!»
«Merci.»
«Sei bloss vorsichtig! Irgendwann hast du selbst eine Anzeige wegen Schikane am Hals, und selbigen werde ich dir dann nicht retten, mein Freund.»
«Dazu wird es nie kommen.»
«Hoffen wir’s. So ein blödes Theater weger einer toten Mieze, und das am Samstagmorgen!»
«Ich habe die Anzeige nicht aufgegeben.»
«Richtig, die Alte war’s.» Bader schüttelte den Kopf. «Frau Suter ist doch nicht mehr ganz richtig im Kopf! Glaubt ständig bedroht zu sein und sieht überall Mörder herumrennen.» Beim Wort Mörder zeichnete Bader imaginäre Gänsefüsschen in die Luft und verdrehte die Augen.
«Sei froh, dass es solch aufmerksame Mitmenschen gibt.»
«Ja, ja.»
Lanz grinste.
Bader öffnete die Bürotür und trat in den Gang hinaus.
«Was ich noch sagen wollte», warf ihr Lanz nach, «das ist kein simpler Katzenentführungsfall. Vielleicht hatte Frau Suter wirklich recht und man wollte damit ein Exempel statuieren, ihr Angst machen! Womöglich war die tote Katze eine Warnung: Sie wurde aus tiefstem Herzen gehasst, dann kaltherzig erschlagen und schliesslich halbherzig vergraben.»
Bader seufzte. «Gib mir Bescheid, wenn du den ominösen Mörder gefasst hast, Sherlock.»
«Das werde ich, keine Sorge!»
In diesem Moment klingelte das Telefon.
«Kantonspolizei Solothurn, Tino Lanz am Apparat.»
Es dauerte nur wenige Sekunden, um Lanz erblassen zu lassen. Er schnippte mit Mittelfinger und Daumen und erregte damit Baders Aufmerksamkeit. Lanz winkte sie zurück ins Büro und wies sie stumm an, die Tür hinter sich zu schliessen. Weil Bader beim Anblick von Lanz‘ kalkweissem Gesicht einen weiteren Scherz ausschliessen konnte, leistete sie seiner Aufforderung Folge.
«Danke, Markus», hörte sie Lanz sagen, «wir machen uns auf den Weg.»
«Was ist denn los?» Bader liess sich auf jenem Stuhl nieder, auf dem kurz zuvor Lüthi gesessen hatte.
«Frau Suter», flüsterte Lanz, «ist tot! Eine Nachbarin hat sie vor wenigen Minuten in der Wohnung gefunden. Also um…», er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, «fünfzehn Uhr dreiundvierzig.»
«Was?!»
«Scheint sich um ein Gewaltverbrechen zu handeln.»
«Dann los! Worauf warten wir noch? Ambulanz vor Ort?»
Lanz nickte.
«Gut, informier den Forensiker! Ich kümmere mich um Lüthi. Die Kollegen sollen ihn noch hier behalten.»
«Okay», klang es leise.
«Tino, reiss dich zusammen!»
«Ja», flüsterte er, «ich schaff‘ das!»
«Das will ich dir auch raten! Los jetzt!»
Die Untersuchungen kamen Lanz wie eine Ewigkeit vor. Er verabscheute Tatorte wie diese.
«Also, Schneider, wie ist die Frau zu Tode gekommen?», wollte Bader wissen, als sie draussen beim Krankenwagen standen.
«Das ist noch nicht eindeutig geklärt», sagte der Arzt, der zur Legalinspektion gerufen worden war.
«Und was ist geklärt?», schaltete sich Lanz ein.
«Der Forensiker ist noch dabei, Spuren zu sichern. Details lassen auf sich warten. Klar ist hingegen, dass das Opfer gewürgt worden ist und sich heftig dagegen zu wehren versucht hat.»
«Scheint nicht viel genützt zu haben.» Ein Verlegenheitsgrinsen war im Anflug, verlor sich aber kommentarlos wegen Baders flüsternder Zurechtweisung.
Ungeachtet der kollegialen Diskrepanz fuhr der Mediziner fort: «Wie Sie selbst in Augenschein nehmen konnten, ist die alte Dame gestürzt und hat sich den Hinterkopf aufgeschlagen. Möglicherweise war dies ihr Todesurteil.»
«Dann ist sie nicht durch Erwürgen, sondern auf Grund des Sturzes gestorben?»
«Sie hat eine Gewalteinwirkung am Hinterkopf erfahren, was ein Aufprall nach einem Sturz verursacht haben könnte. Genaueres wissen wir aber erst nach der Obduktion.»
«Natürlich.»
«Wie lange ist sie schon tot?», fragte Lanz.
«Möglicherweise acht, maximal neun Stunden.»
Lanz runzelte die Stirn. «Sie haben gesagt, die alte Dame hätte sich gegen den Angreifer zur Wehr gesetzt. Woraus schliessen Sie das?»
«Es waren diverse blaue Flecken an ihrem Körper erkennbar.»
«Herrührend von einem Kampf?»
«Jedenfalls nicht vom Sturz.»
«Könnten Sie das präzisieren?»
«Es handelt sich um Hämatome im Gesicht, am Hals, an den Unterarmen und beiden Handgelenken.»
«Blutergüsse im Gesicht? Wurde sie geschlagen?»
«Möglicherweise. Wir werden auch Abdrücke von ihrem Gebiss anfertigen.»
«Zahnabdrücke? Wieso das? Wir wissen doch, wer sie ist!»
«Es wäre möglich, dass sie den Spurenverursacher gebissen hat. Abdrücke helfen uns bei der Spurenabgleichung. An ihren Zähnen könnten Hautpartikel vom Angreifer zu finden sein.»
Lanz verzog angewidert das Gesicht. «Sie hat den Angreifer tatsächlich gebissen? Ah nein», korrigierte er sich selbst, «sie hat den Mörder möglicherweise mit ihren Zähnen verletzt.»
Bader unterdrückte ein Schmunzeln.
«Finden Sie das spassig, Lanz? Rechtsmedizin ist eine ernsthafte Wissenschaft.»
«Natürlich», gab sich Lanz demütig.
«Zweifeln Sie meine Arbeitsweise an?» Schneiders Mimik blieb ausdruckslos.
«Nein, keineswegs.»
«Gut. Meine Arbeit ist vorerst beendet. Die Leiche kann jetzt abtransportiert werden.» Schneider verzog keine Miene. Sein Gesicht war ebenso aschfahl wie jenes, der jeweils zu examinierenden Leichen.
«In Ordnung», sagte Bader. «Vielen Dank, Schneider.»
«Das ist mein Job», sagte er knapp und verabschiedete sich.
Lanz empfahl sich ebenfalls und fasste einen kurzen Moment später seine Kollegin am Arm, zog sie eilig mit sich.
«Hey, was soll das?», beschwerte sie sich.
«Mir ist etwas eingefallen.»
«Was denn?»
«Du erinnerst dich doch an das Verhör von heute Nachmittag.»
«Unvergesslich, ja.»
«Dieser Kerl, Lüthi, der war mir von Anfang an suspekt. Ich glaube, der ist tatsächlich in die Sache verstrickt!»
«Wie bitte?»
«Ich denke, dass er Frau Suter getötet hat! Es passt alles zusammen: Sie hat ihn als Katzenhasser betitelt, Lüthi fühlte sich persönlich angegriffen, ist ausgeflippt, hat die Alte in ihre Wohnung zurückgedrängt, wollte damit dem Gerede der Nachbarn oder deren Aufmerksamkeit entgehen und gleichzeitig die keifende Alte zum Schweigen bringen. Diese ist aber beim ungemütlichen Gerangel gestürzt und somit zu Tode gekommen. Passt wie die Faust aufs Auge!»
Bader nickte.
«Lüthi hat doch gesagt, er sei von Frau Suter um halb zwölf angeblafft worden, weil sie dachte, er hätte ihre Katze entführt und ermordet.»
«Ja, und?»
«Erstens, er hat gelogen, was die Uhrzeit betrifft, denn zu diesem Zeitpunkt war Frau Suter längst mausetot! Zweitens, ich glaube, dass seine Freundin die Katze beseitigt hat. Siamkatzen sind ziemlich quängelig und laut. Als Nachbar kann einem das bestimmt den letzten Nerv oder gar den Schlaf rauben!»
«Stimmt! Und Lüthi war nicht besonders kooperationsbereit während der Vernehmung. Er schien tatsächlich etwas zu verbergen.»
«Exakt! Ausserdem war der Katzenkadaver in ein Hello-Kitty-Frotteetuch gehüllt. Es muss also eine Frau, sprich Lüthis Freundin gewesen sein, denn nenn mir einen einzigenMann, der zu Hause Hello-Kitty-Wäsche hat!»
«Eher ungewöhnlich.»
«Ungewöhnlich? Eher ausgeschlossen!»
«Ja, Vollprofis waren nicht am Werk. So viel steht fest.»
«Genau! Erinnere dich, was Schneider gesagt hat: Die alte Dame hat sich zur Wehr gesetzt.»
«Und?»
Lanz legte seine Hände um Baders Hals. «Wie würdest du dich aus dieser misslichen Lage befreien?»
«Ich würde dir in die Eier treten!»
Lanz hob die rechte Augenbraue. «Du sollst dich in die Rolle einer alten, rundlichen Dame versetzen, Sandra! Was würde sie tun?»
Bader ballte ihre Hände instinktiv zu Fäusten, riss ihre Arme mit einem Ruck nach oben und schmetterte damit Lanz‘ Würgegriff ab.
«Voilà! Damit hätte ich zwei wunderbare blaue Flecken an meinen Unterarmen kassiert!»
«Oder ein paar Kratzer, wenn ich dir die Fingernägel ins Fleisch gerammt hätte!»
«Sehr gut», grinste Lanz. «Und weisst du was? Als Lüthi sich während der Vernehmung kurz an die Stirn gefasst hat, ist mir unterhalb seines Handgelenkes ein Hämatom aufgefallen.»
«Weshalb bist du dir sicher, dass es vom Handgemenge mit Frau Suter stammt?»
«Instinkt! Ausserdem, fandest du es nicht merkwürdig, dass ein junger, gesunder Mann an einem sonnigen Tag wie heute ein langärmliges Shirt trägt?»
«Nein, warum?»
«Na gut, du bist eine Frau und Frauen frieren eigentlich immer. Selbst bei plus fünfundzwanzig Grad!»
Baders Augen verengten sich zu Schlitzen.
«Ist doch wahr! Wir Männer können selbst im Winter T-Shirts tragen!»
«Das ist natürlich sehr verdächtig.»
Lanz überhörte den ironischen Unterton.
«Allerdings! Damit lässt sich erklären, dass Lüthi mittels langärmligem Shirt etwas an seinen Armen zu verstecken versucht hat! Und ich glaube nicht, dass es sich dabei um ein schlecht gemachtes Tattoo handelt.»
«Wohl eher um blaue Flecken, Biss- oder Kratzspuren!», dämmerte es Bader.
Lanz nickte zufrieden.
«Wir müssen Lüthis Freundin verhaften!»
«Definitiv», sagte Lanz, «aber willst du mir nicht zuerst danken, dass ich Lüthi heute aufs Revier gebeten und auf Abgabe seiner Speichelprobe bestanden habe?»
Bader schüttelte amüsiert den Kopf. «Du Genie!»
Lanz grinste breit.
«Dann los, verhaften wir die Katzenmörderin!»
«Hier wird sie gewiss nicht sein. Ihre eigene Wohnung liegt in Biberist», klärte Lanz auf.
«Woher weisst du das?», fragte Bader verblüfft.
«Nenn mich Sherlock!», zwinkerte ihr Lanz zu.
Bader lachte und startete den Motor des Dienstfahrzeuges.
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